Der Tote am Badger Mountain
Mord & Moonshine im Schwarzwald.
Der erste Moonshine Krimi
von Pia Klein
Prolog
Die Nacht der Geheimnisse
Am Besten genießen mit einem:
Badger Mountain Mule
5cl BMMC79 ROCKET FUEL Moonshine
15cl Premium Ginger Beer
Saft einer halben Limette
Frische Minzblätter
Eiswürfel
In einem Kupferbecher mit Eiswürfeln servieren. Moonshine und Limettensaft zugeben, mit Ginger Beer auffüllen und vorsichtig umrühren. Mit Minzblättern garnieren.
—
Kevin stößt die rostige Metalltür seiner Scheune einem wütenden Schubs auf. Kalte Nachtluft strömt hinein und vermischt sich mit der wohlig warmen Luft aus der Scheune, die ihm als Still House dient. Das war mit Sicherheit ein Schuss, den er gehört hat. Wer schießt um diese Uhrzeit in seinem Tal herum? Ob sich da doch der Wolf, von dem schon so lange gemunkelt wird, in den Südschwarzwald geschlichen? Der kann was erleben! Er stürmt davon in die Nacht.
—
Anna Becker keucht, als sie schnellen Schrittes über ihre Türschwelle tritt. Die Gummistiefel quietschen leise auf den braunen Kacheln, die in der Dunkelheit grau aussehen. Sie schiebt die schwere Holztür hinter sich zu und lehnt sich erschöpft dagegen. Sie atmet schwer und ringt nach Luft, noch immer an die Innenseite ihrer Haustür gelehnt. Diesmal ist er wirklich zu weit gegangen.
—
Matthias „Matze" Opitz steht im schwachen Licht seines Handydisplays und starrt ungläubig auf die Nachricht. „Erledigt. Treffe dich am Treffpunkt." Ja, wo denn auch sonst, denkt er genervt. Die Buchstaben verschwimmen vor seinen Augen. Erledigt? Was zum Teufel meint Patrick mit erledigt? Sie wollten Marcus nur unter Druck setzen. Aber Patrick hatte diesen Blick in den Augen gehabt, als sie sich vorhin trennten. Nein. Nein, nein, nein. Das war nur Business. Industriespionage, Konkurrenzverdrängung – aber doch kein... Er tippt mit zitternden Fingern: „Was hast du getan???"
—
Gregor Hoffmann würgt den Motor seines alten Mercedes-Transporters ab. Seine Hände zittern so stark, dass er den Zündschlüssel kaum festhalten kann. Der Schuss hallt noch immer in seinen Ohren nach, obwohl längst wieder Stille über dem Tal liegt. Er starrt durch die schmutzige Windschutzscheibe in die Dunkelheit, sieht aber nur sein eigenes blasses Gesicht in der Reflexion. Schweißperlen laufen ihm über die Stirn. Das war nicht der Plan. Das sollte nur ein Gespräch werden, eine Warnung vielleicht. Aber doch kein... Er würgt wieder, diesmal ist es nicht den Motor.
—
Felix Brenner taumelt gegen die stabiel Rückwand der Scheune und tastet nach Halt. Die leere Schnapsflasche rutscht aus seiner Hand und zerbricht laut, als sie schlingernd gegen die Steine der Scheunenwand schlägt. Plötzlich zuckt er zusammen. Er blinzelt verwirrt, versucht seinen verschwommenen Blick zu fokussieren. War das ein Schuss? Oder hat er nur wieder zu viel getrunken? Seine Zunge ist pelzig, sein Kopf dröhnt. Er schnuppert. Schwefel. Schießpulver. Aber da – da liegt etwas am Bach. Oder jemand. Dann sieht er einen Schatten zwischen Bäumen davonhuschen. er hört das Knacken der Äste unter den Schuhen des Flüchtigen. Felix reibt sich die Augen und stolpert einen Schritt vor. „Heilige Scheiße", murmelt er mit schwerer Zunge. „Heilige verfickte Scheiße." Mit einem Schlag ist er nüchtern. Er macht einen festen Schritt in der Dunkelheit und läuft vorsichtig Richtung Fluss. Dann hört er das laute Quietschen der rostigen Scheunentür auf der anderen Seite des Stillhouses. Er bleibt stehen. Wenn Kevin ihn schon wieder hier erwischt, und das nachdem er die Flasche Moonshine geleert hat, dann gibt’s Ärger. Er macht kehrt und verschwindet im Wald hinter der Scheune.
—
Daniel Waldmanns Herz rast. Er hat in der Bewegung innegehalten und steht so still er kann auf dem trockenen, weichen Blätterboden mitten im Wald. Seine Augen sind weit aufgerissen, doch er kann nichts sehen. Der Schwarzwald hat seinen Namen aus einem bestimmten Grund bekommen. Nur schemenhaft kann er die Umrisse der hundertejahre alten hohen Tannen sehen. Vorsichtig macht er einen Schritt zur Seite. Verdächtig bricht ein Ast unter seinem Turnschuh. Verdammt. Sein Herz scheint noch einen Sprung zu machen. Er lässt das Jagdgewehr in seiner Hand etwas sinken und greift in seine Jackentasche, um nach der Taschenlampe zu suchen.
—
Tim Richter duckt sich instinktiv hinter seinem grauen Dienstwagen. Die Dienstwaffe ist schon in seiner Hand, obwohl er sich nicht erinnern kann, sie gezogen zu haben. Sein Atem geht stoßweise, kondensiert in der kalten Nachtluft zu kleinen Wölkchen. Das war definitiv ein Schuss – und er kam von dort drüben, vom Badger Creek. Genau da, wo Marcus sich aufhalten sollte. Tims Finger liegen schweißnass am Abzug. Er hätte früher zuschlagen sollen, hätte Marcus heute Nachmittag schon festnehmen sollen, als er die Chance hatte. Aber Berlin wollte mehr Beweise. Tim lauscht in die Dunkelheit. Nichts. Er kommt hinter seinem Dienstwagen hervor.
—
Nur wenige Stunden zuvor.
Der Herbstabend legte sich wie eine warme Decke aus goldenem Licht und Schatten über Oberkutterau. Das kleine Dorf, nicht mehr als eine Handvoll Häuser, die sich wie schlafende Katzen zwischen die sanften Hügel des Schwarzwalds schmiegten, wirkte in der Dämmerung noch verwunschener als sonst. Die letzten Sonnenstrahlen tanzten durch die Wipfel der hohen Tannen auf der Bergspitze und warfen ein Kaleidoskop aus Rot, Orange und Gold auf die Bäume auf der anderen Talseite. Das kleine Tal lag im frühen Dunkel der Nacht.
In einem der schmucken Schwarzwaldhäuser, dunkelbraun, fast schwarz, mit charakteristischen roten Läden saß Anna Becker am Fenster ihres Wohnzimmers und blätterte durch ein dickes, ledergebundenes Heft. Auf ihrem Schoß lag ein Fernglas, griffbereit wie die Waffe eines Scharfschützen. Ihre wässrig blauen Augen schweiften regelmäßig vom Heft zum Fenster, von wo aus sie einen geraden Blick auf die Scheune der Nachbarn hatte.
„Wieder Besuch", murmelte sie und notierte akribisch unter einen Eintrag von 15:37 Uhr. „19:47 Uhr - Grauer BMW, Kennzeichen WT-DW 317, parkt vor der Scheune. Fahrer: junger Mann, dunkles Hemd, gepflegte Erscheinung."
Am Fuße des Dachsbergs, dort wo sich ein kleiner Bach träge durch das Tal schlängelte, erhob sich die renovierte Scheune der Badger Mountain Moonshine Company - kurz BMMC79 - wie ein perfektes Relikt aus anderen Zeiten. Von außen sah sie aus wie jede andere Schwarzwälder Scheune - rötliche Ziegel, steiles, schwarzes Dach und Fenster aus Glasbausteinen. Aber das warme Licht, das durch die Ritzen schimmerte, und der süßliche Duft von Hefe und fermentierendem Mais verrieten, dass hier etwas Besonderes passierte.
Kevin Smith stand an seiner Kupferbrennblase und betrachtete den kristallklaren Moonshine, der perlend aus dem Destillationsrohr tropfte. Mit seinen fünfzig Jahren sah er aus wie ein Mann, der schon mehr von der Welt gesehen hatte, als seine Lebensjahre vermuten ließen. Wer versuchte, Erlebnisse und Lebensjahre aus seinen zahlreichen Anekdoten zu zählen, sollte meinen, er wäre mindestens doppelt so alt, wie seine handschriftlich verfasste Geburtsurkunde tatsächlich bescheinigte. Seine wettergebräunten Hände bewegten sich mit der Sicherheit von Generationen von Erfahrung, während er die Temperatur justierte.
Es war der erste Brenntag und dieser Tag war lang gewesen, nachdem der Zollbeamte Tim Richter früh morgens schon dagewesen war, um sicherzugehen, dass in dieser kleinen Moonshine-Brennerei alles seine Richtigkeit hatte, hatten sie am Nachmittag Besuch von einem gewissen Marcus Neumann gehabt. Er war unangemeldet aufgetaucht, in einem schwarzen BMW mit Münchner Kennzeichen, gekleidet wie jemand, der sich vorgestellt hatte, wie ein „authentischer Moonshine-Liebhaber" auszusehen hatte - teure Outdoorjacke, die noch nie Schlamm gesehen hatte, Designerjeans und Wanderschuhe, deren Sohlen zu sauber waren für jemanden, der angeblich durch den Schwarzwald gewandert war.
„Herr Smith?", hatte er mit diesem typischen süddeutschen Akzent gefragt, der Kevin immer wie gespielt vorkam. „Marcus Neumann. Ich habe von Ihrem ROCKET FUEL gehört. Von einem Freund in München. Er schwärmt davon wie von nichts anderem."
Kevin hatte ihm misstrauisch die Hand geschüttelt. In all seinen Jahren als Moonshiner hatte er gelernt, zwischen echten Enthusiasten und Leuten zu unterscheiden, die etwas wollten. Marcus Neumann gehörte definitiv zur zweiten Kategorie.
„Well, I appreciate the interest", hatte Kevin geantwortet und dabei Marcus' Augen beobachtet, die bereits über die Destillationsanlage wanderten wie Scanner. „But we're in the middle of our first run. Not exactly visiting hours, if you know what I mean."
„Natürlich, natürlich", hatte Marcus schnell gesagt, aber er hatte sich nicht bewegt. Stattdessen war er näher an die Kupferbrennblase herangetreten, hatte Fotos mit seinem Handy gemacht - „nur für meine persönliche Sammlung, verstehen Sie" - und Fragen gestellt. Zu viele Fragen. Zu detaillierte Fragen.
„Welche Temperatur halten Sie beim Vorlauf? Wie lange lassen Sie den Mais fermentieren? Arbeiten Sie mit Holz- oder Edelstahlfässern? Haben Sie die Rezeptur selbst entwickelt oder ist das ein Familiengeheimnis?"
Mit jeder Frage war Kevins Unbehagen gewachsen. Das waren keine Fragen eines Liebhabers. Das waren Fragen eines Konkurrenten. Oder schlimmer - eines Spions.
„Listen, buddy", hatte Kevin schließlich gesagt und sich zwischen Marcus und seine Brennanlage gestellt. „I don't know what you're really after, but this ain't no tourist attraction. We're a licensed distillery, we follow the rules, and we don't share trade secrets with strangers who show up unannounced."
Marcus hatte gelächelt - zu glatt, zu einstudiert. „Entschuldigen Sie, Herr Smith. Ich bin manchmal zu enthusiastisch. Aber Sie haben recht, ich sollte Sie jetzt arbeiten lassen." Er hatte eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche gezogen. „Vielleicht können wir uns ein andermal unterhalten? Ich bin noch ein paar Tage in der Gegend."
Kevin hatte die Karte genommen, ohne sie anzusehen. „Maybe. We'll see."*
Danach war Marcus gegangen, aber nicht bevor er noch einen letzten, langen Blick auf die Destillationsanlage geworfen hatte. Kevin hatte ihn durch das Fenster beobachtet, wie er zu seinem BMW ging, dabei sein Handy zückte und telefonierte. Selbst aus der Entfernung konnte Kevin sehen, wie angespannt Marcus' Körpersprache war.
„That sonofabitch is up to something", hatte Kevin zu sich selbst gemurmelt. „And I got a bad feeling it ain't nothing good."
Er hatte recht behalten. Nur hatte er nicht gedacht, dass er Marcus schon am nächsten Morgen wiedersehen würde.
„Well, I'll be jiggered", murmelte er zufrieden auf seinem unverkennbaren amerikanischen Akzent, den er auch nach Jahren in Deutschland beibehalten hatte. „That batch is gonna be smoother than a baby's bottom."
Hinter ihm, an dem rustikalen Holztisch, der als Bar diente, saß seine Frau Martina und bereitete die Cocktails für den Abend vor. Ihre Bewegungen waren präzise und effizient - zur Hälfte Italienerin, zur Hälfte Deutsche, und hundertprozentig unerschütterlich.
Die Badger Mountain Mules waren Kevins Lieblings-Begrüßungsdrink: ROCKET FUEL Moonshine mit Ginger Beer, Limette und frischer Minze, serviert in kupfernen Bechern, die das warme Licht der Scheune reflektierten.
„Daniel müsste jeden Moment da sein", sagte sie ohne aufzublicken, während sie die Minzblätter zwischen ihren Handflächen zerrieb, um die ätherischen Öle freizusetzen. „Und du weißt, wie pünktlich er immer ist."
Pia Klein saß auf einem der hohen Barhocker und war - wie immer - für das ländliche Setting völlig overdressed. Ihr Blazer und die weiße Seidenbluse wirkten in der rustikalen Scheune fehl am Platz, aber sie schien sich völlig wohl zu fühlen. Ihr Laptop war zugeklappt, das Smartphone stumm geschaltet - wenn die Moonshine-Runde zusammenkam, hatte die Außenwelt Pause.
„Die Expansion ins Hotel-Business könnte der Durchbruch sein, den wir brauchen", sagte sie und nippte an ihrem Mule, den Martina ihr gerade hingestellt hatte. „Daniels Kontakte in der Tourismusbranche sind Gold wert. Stellt euch vor: Moonshine-Verkostungen als Teil von Schwarzwald-Erlebnisreisen." Sie hielt eine glänzende Broschüre hoch.
Kevin grinste. „As long as we don't have to dress up like some theme park cowboys. I ain't puttin' on no costume for nobody."*
Das Knirschen von Reifen auf Kies unterbrach ihre Unterhaltung. „Pünktlich wie immer", bemerkte Martina anerkennend.
Sie konnten aus der Scheune den Parkplatz nicht sehen, aber hörten eine Autotür zufallen und lauschten dann auf die Schritte, die sich nun selbstsicher der Scheune näherten.
Der junge Mann erschien in der offenen Scheunentür und strich sein dunkles Hemd glatt, in der Hand eine alte Ledertasche.
Kevin wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und ging ihm entgegen, um Daniel Waldmann mit einem festen Händedruck zu begrüßen: „Evening, Daniel! Right on time, as usual. Come on in, partner."*
Daniel Waldmann betrat die Scheune mit dem selbstsicheren Lächeln eines erfolgreichen Geschäftsmanns, aber seine Augen strahlten die genuine Begeisterung eines Menschen aus, der seine Leidenschaft zum Beruf gemacht hatte.
„Kevin, Martina, Pia - schön, euch zu sehen. Es riecht fantastisch hier drin."
„That's the smell of honest work and authentic moonshine", sagte Kevin stolz. „None of that industrial garbage they try to pass off as the real deal."
Martina reichte Daniel einen der kupfernen Becher. „Badger Mountain Mule, frisch gemacht. Probier mal."
Daniel nahm einen Schluck und seine Augen weiteten sich anerkennend. „Das ist... wow. Das ist nicht einfach nur ein Drink, das ist ein Erlebnis."
„Exactly what we're going for", grinste Kevin. „Now, let's talk business before this moonshine makes us all too friendly to negotiate properly."
Die vier setzten sich um den schweren Holztisch, dessen Kerben auf der Platte zahlreiche Geschichten erzählen konnten. Sie stießen an, das Klingen der Kupferbecher hallte durch die Scheune. Die Atmosphäre war entspannt und vertraut - dies war nicht nur ein Geschäftstreffen, sondern ein Zusammenkommen von Freunden, die eine gemeinsame Vision teilten.
„Also", begann Daniel und öffnete seine Ledertasche, „ich habe mit einigen Partnern in der Region gesprochen. Das Interesse an authentischen, lokalen Erlebnissen steigt stetig. Die Leute wollen weg vom Massentourismus, hin zu etwas Echtem."
Pia lehnte sich vor. „Das passt perfekt zu unserer Anti-Industrie-Strategie. Während diese Betrüger aus Berlin ihren gepanschten Industriealkohol als ‚authentischen Moonshine' verkaufen, bieten wir das echte Erlebnis."
„Speaking of them Berlin varmints", knurrte Kevin, „have you heard any more about their operations? I got a feeling they ain't done trying to muscle in on our territory."
Daniel schüttelte den Kopf. „Nichts Konkretes. Aber ich habe gehört, dass sie Investoren suchen. Große Investoren. Angeblich planen sie eine massive Expansion."
Martina runzelte die Stirn. „Expansion womit? Mit gefälschtem Moonshine? Das ist wie... wie Lasagne aus der Mikrowelle."
„Well, whatever they're planning", sagte Kevin und hob seinen Becher, „we'll be ready for 'em. Real always beats fake in the long run."
Draußen war die Dämmerung zur vollständigen Dunkelheit geworden, und die Lichter der Scheune warfen lange Schatten über das Tal.
Was sie nicht wussten: Etwa hundert Meter entfernt, versteckt hinter einer mächtigen Tanne, kniete ein Mann im Unterholz. Marcus Neumann hielt eine Kamera mit Teleobjektiv in den Händen und machte Aufnahme um Aufnahme. Seine grauen Augen waren konzentriert auf das beleuchtete Fenster der Scheune gerichtet, während er jeden ihrer Schritte dokumentierte.
Er trug dunkle Kleidung und hatte sein Gesicht mit Tarnfarbe eingerieben - ein Profi bei der Arbeit. Neben ihm lag eine teure Aufnahmeausrüstung: Richtmikrofone, Nachtsichtgeräte, sogar ein kleiner Laptop für die sofortige Bildbearbeitung.
Klick. Klick. Klick.
Die Aufnahmen waren gestochen scharf. Kevin Smith beim Destillieren. Martina beim Mixen der Cocktails. Pia Klein mit ihrem Laptop. Daniel Waldmann mit seiner Ledertasche. Jede Geste, jede Bewegung wurde akribisch dokumentiert.
Marcus tippte eine Nachricht in sein verschlüsseltes Handy: „Geschäftstreffen im Gange. Vier Personen anwesend. Sammle Beweise für operative Struktur. Phase 2 kann beginnen."
In der Scheune setzte Daniel gerade zu einer Präsentation an, als ein seltsames Geräusch aus dem Wald alle innehalten ließ. Ein Knacken von Ästen, gefolgt von einem metallischen Klirren.
Kevin spitzte die Ohren wie ein alter Jagdhund. „Y'all hear that?"*
Alle hörten auf zu sprechen und lauschten. Für einen Moment war nur das leise Blubbern der Destillationsanlage zu hören.
Dann noch einmal: Knack. Klirr.
„Wahrscheinlich nur ein Reh", sagte Daniel, aber seine Stimme klang nicht ganz überzeugt.
Kevin stand auf und ging zum Fenster. Seine Augen durchsuchten die Dunkelheit, aber die Lichter der Scheune machten es unmöglich, etwas in der Schwärze des Waldes zu erkennen.
„Could be", murmelte er. „But I got a feeling we ain't the only ones interested in our little business meeting tonight."
Martina stand ebenfalls auf und trat neben ihren Mann. „Vielleicht machen wir das Fenster mal zu?"
„Nah", winkte Kevin ab, aber seine Hand wanderte unbewusst zu dem Ort, wo er normalerweise sein Taschenmesser trug. „If someone's out there sniffing around, they'll learn real quick that this ain't the place to be playing games."
Sie setzten sich wieder, aber die entspannte Atmosphäre war gebrochen. Jeder Schatten draußen schien plötzlich verdächtig, jedes Geräusch eine potenzielle Bedrohung.
Im Unterholz lächelte Marcus Neumann kalt. Er hatte absichtlich Lärm gemacht - ein alter Trick, um die Zielpersonen nervös zu machen und ihre wahren Reaktionen zu testen. Und ihre Reaktionen verrieten ihm mehr über ihre Persönlichkeiten als stundenlange Observation.
Kevin Smith: Alpha-Tier, beschützend, misstrauisch gegenüber Fremden. Martina Smith: Rational, aber loyal zu ihrem Mann. Pia Klein: Analytisch, aber unerfahren in physischen Bedrohungssituationen. Daniel Waldmann: Geschäftsmann, versuchte Situationen zu entspannen.
Perfekt. Alle Informationen, die er brauchte.
Er packte seine Ausrüstung zusammen und schlich sich tiefer in den Wald zurück. Morgen würde er wiederkommen. Morgen würde er näher rangehen. Und morgen würde er herausfinden, was die BMMC79 wirklich verbarg.
In der Scheune servierte Martina eine neue Runde Drinks. Daniel breitete seine Unterlagen aus, Pia öffnete ihren Laptop, und Kevin kontrollierte den Kanister unter der Brennblase. Der Brand war fast fertig durchgelaufen. Aber alle wussten, dass sich etwas verändert hatte.
„So", sagte Daniel, räusperte sich und versuchte, den Faden wieder aufzunehmen, „wo waren wir stehengeblieben?"
„Bei der Expansion", antwortete Pia, aber ihre Augen schweiften immer wieder zum Fenster.
„Right", nickte Kevin. „Let's talk turkey. What exactly are you proposing, Daniel?"
Während sie ihre Geschäfte besprachen - Tourismuspakete, gemeinsame Marketingstrategien, authentische Schwarzwald-Erlebnisse - lag über dem ganzen Gespräch der Schatten des Unbekannten. Jemand da draußen interessierte sich für sie. Jemand beobachtete sie.
Und während sie ihre Pläne für die Zukunft schmiedeten, ahnten sie nicht, dass diese Zukunft bereits in Gefahr war.
Anna Becker, hundert Meter entfernt in ihrem Wohnzimmer, notierte in ihr Heft: „21:15 Uhr - Verdächtige Geräusche aus dem Wald. Unbekannte Person möglicherweise in der Nähe der Destillerie. Geschäftstreffen läuft noch."
Sie legte das Fernglas zur Seite und rieb sich die müden Augen. Morgen würde sie Kevin Smith von ihren Beobachtungen erzählen. Morgen würde sie ihm sagen, dass jemand seine geliebte Destillerie ausspionierte.
In der Scheune erhoben sich die vier Freunde zu einem letzten Anstoß. Die Kupferbecher klirrten zusammen, und Kevins Stimme hallte durch die warme Nacht:
„To authentic moonshine, real friendships, and keeping the fakers where they belong - far away from our mountains!"*
„Cheers!", antworteten die anderen drei.
Der Wind fuhr durch die Tannen, und irgendwo in der Dunkelheit löste sich ein Schatten von einem Baum. Marcus Neumann steckte sein Handy ein, auf dessen Display noch die letzten Fotos der Destillationsanlage zu sehen waren. Er hatte genug gesehen. Genug gehört. Morgen würde er seinen Bericht abschicken - an Spree Forest in Berlin.
Die Nacht der Geheimnisse hatte begonnen. Für Marcus Neumann würde sie nie enden.