Buch-Rezension: „Schreibtisch mit Aussicht“ – Warum Frauen weniger Raum zum Schreiben haben

1. Der Raum, den wir brauchen – und selten bekommen

Es gibt diesen Moment, den vermutlich viele schreibende Frauen kennen: Man hat eine Idee, spürt den Impuls, etwas festzuhalten, einen Satz zu notieren, sich in eine Szene zu versenken – aber dazwischen steht der Alltag. Ein Kind ruft. Die Spülmaschine piept. Der Kopf ist voll mit To-dos, während die Zeit, die man eigentlich fürs Schreiben bräuchte, zwischen Verpflichtungen verrinnt.

Der berühmte Satz von Virginia Woolf, dass eine Frau ein eigenes Zimmer und ein gesichertes Einkommen brauche, um schreiben zu können, ist über hundert Jahre alt. Und trotzdem hat er bis heute nichts an Gültigkeit verloren – im Gegenteil. Denn dieser Raum, von dem Woolf spricht, ist nicht nur ein physischer Ort. Es ist auch ein geistiger Raum. Eine Zeit-Insel. Eine Erlaubnis, den eigenen Gedanken nachzugehen, ohne unterbrochen zu werden.

Und genau dieser Raum fehlt oft. Nicht, weil wir ihn nicht verdient hätten. Sondern weil er von außen nicht mitgedacht wird – und von innen viel zu selten eingefordert.

Ilka Piepgras hat ein Buch über genau diesen Zustand geschrieben. „Schreibtisch mit Aussicht“ ist kein Ratgeber, sondern eine Einladung zum Hinschauen. Sie porträtiert schreibende Frauen, fragt nach ihren Lebensrealitäten und schreibt gleichzeitig über das, was oft unsichtbar bleibt: die Bedingungen, unter denen Frauen kreativ sind – oder es eben nicht sein können.

 

2. Worum geht es in „Schreibtisch mit Aussicht“?

Ilka Piepgras ist Journalistin, Autorin und selbst eine schreibende Frau. In „Schreibtisch mit Aussicht“ versammelt sie Porträts von Schriftstellerinnen, deren Leben und Werk sie über Jahre begleitet hat. Entstanden ist ein kluges, leises und dennoch sehr politisches Buch – nicht im parteilichen Sinn, sondern im tiefgreifenden, existenziellen Sinn: Wer darf schreiben? Wer bekommt Zeit? Und wer muss sich diesen Raum mühsam erkämpfen?

Piepgras schreibt über Autorinnen wie Joan Didion, Zadie Smith, Siri Hustvedt, Doris Lessing, Patti Smith oder Rachel Cusk – Frauen, die ganz unterschiedliche Leben führen, aber eines gemeinsam haben: das Bedürfnis, zu schreiben, und die Realität, in der dieses Bedürfnis nicht immer Platz hat.

Was das Buch besonders macht, ist die Mischung aus journalistischer Beobachtung, literarischem Feingefühl und persönlicher Reflexion. Die Texte sind keine Biografien, sondern Momentaufnahmen – kluge, feinfühlige Essays, in denen Piepgras nicht nur über das Werk der Frauen spricht, sondern auch über die Bedingungen, unter denen dieses Werk überhaupt entstehen konnte.

Dabei geht es nie um reine Bewunderung, sondern um Nähe. Um das Ringen, das Zögern, das Zweifeln. Um die Räume, die fehlen. Und um die Kraft, die entsteht, wenn Frauen trotzdem schreiben.

„Schreibtisch mit Aussicht“ ist kein lautes Buch. Aber es stellt Fragen, die in ihrer Ruhe umso deutlicher nachhallen. Fragen, die man nicht nur als Leserin, sondern auch als schreibende Frau mitnimmt.

 

3. Warum Frauen weniger schreiben (können) – ein strukturelles Problem

Es ist leicht, von außen zu sagen: „Wenn du wirklich schreiben willst, findest du auch Zeit.“
Aber wer so spricht, blendet etwas Wesentliches aus: Zeit ist nicht neutral verteilt. Und sie ist auch nicht bloß eine Frage von Planung oder Prioritäten. Sie ist ein Privileg – vor allem für Frauen.

Wer schreibt, braucht nicht nur einen Schreibtisch, sondern einen freien Kopf. Und genau dieser freie Kopf ist im Alltag vieler Frauen Mangelware. Das beginnt bei der sichtbaren Arbeit – Kinder, Haushalt, Pflege, Organisation. Aber es hört bei der unsichtbaren Last nicht auf: das ständige Mitdenken, Planen, Erinnern, Sorgen. Diese „mentale Last“ ist keine Erfindung überforderter Mütter, sondern eine reale, strukturelle Ungleichheit. Sie kostet Energie, Aufmerksamkeit – und Kreativität.

Während Männer in vielen Fällen immer noch als „künstlerisch arbeitend“ oder „in einem Projekt vertieft“ gesehen werden, gelten Frauen, die sich Zeit zum Schreiben nehmen, schnell als egoistisch, abwesend, sogar verantwortungslos. Die gesellschaftliche Erwartung an Frauen bleibt hoch: ansprechbar sein, präsent sein, funktional sein.

Ilka Piepgras benennt das nicht anklagend, sondern beobachtend. Und gerade dadurch wirkt es so deutlich: Wie selbstverständlich Männer in der Literaturgeschichte ihren Raum bekommen – und wie leise, fast entschuldigend Frauen oft erst darum bitten müssen.

Schreiben ist eine Form des Rückzugs. Aber viele Frauen können sich diesen Rückzug nicht leisten, ohne dafür in Frage gestellt zu werden – von außen oder von sich selbst. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Die Vorstellung, etwas „wegzunehmen“, wenn man sich Zeit für sich selbst nimmt, ist tief in vielen von uns verankert.

Die Folge ist oft kein offener Verzicht, sondern ein schleichendes Aufgeben: „Ich komme eh nicht dazu“, „Es ist gerade nicht der richtige Moment“, „Vielleicht später“. Und später wird zu nie.

Aber genau deshalb ist ein Buch wie „Schreibtisch mit Aussicht“ so wichtig: Weil es zeigt, dass das kein individuelles Versagen ist – sondern ein gesellschaftliches Muster.

 

4. Piepgras’ Porträts – inspirierend und ernüchternd zugleich

Was „Schreibtisch mit Aussicht“ so lesenswert macht, ist die Balance zwischen Bewunderung und Klarheit. Ilka Piepgras schreibt über bedeutende Schriftstellerinnen – Frauen, die veröffentlichen, gelesen und gefeiert werden. Und doch wird in jeder einzelnen Geschichte deutlich, dass ihre Autorschaft nichts Selbstverständliches ist. Sie ist Ergebnis von Entscheidung, Beharrlichkeit, Kampf.

Die Porträts zeigen nicht nur das literarische Werk, sondern auch den Weg dorthin. Und dieser Weg war – selbst bei den scheinbar Erfolgreichen – selten gerade. Viele der porträtierten Frauen mussten sich das Schreiben aus dem Alltag herausbrechen. Zwischen Kindern, Pflichten, gesellschaftlichen Erwartungen. Oft haben sie nachts geschrieben, während andere schliefen. Oder in Phasen, in denen sie es sich eigentlich nicht leisten konnten – weder finanziell noch emotional.

Piepgras erzählt etwa von Joan Didion, die früh eine klare Stimme fand, aber mit Krankheit, Verlust und einem zerbrechlichen Selbstbild zu kämpfen hatte. Von Rachel Cusk, die das Bild der Mutter und Schriftstellerin auf radikale Weise auseinandernimmt. Von Siri Hustvedt, die sich neben dem literarischen auch intellektuell einen Platz in einer männlich dominierten Welt erarbeitet hat – oft gegen Widerstand. Oder von Doris Lessing, die mit Kind auf dem Schoß schrieb, weil es eben nicht anders ging.

Diese Porträts sind inspirierend, ja. Aber sie sind auch ernüchternd. Denn sie zeigen, wie oft Frauen eben trotz ihrer Lebensumstände schreiben – nicht dank ihnen. Wie viel Kraft es kostet, sich gegen innere und äußere Widerstände durchzusetzen. Und wie selten das öffentlich sichtbar wird.

Gleichzeitig macht das Buch Mut. Denn es zeigt auch: Schreiben ist möglich. Es findet Wege. Manchmal leise, manchmal wütend, manchmal langsam – aber es findet statt. Nicht weil alles ideal ist, sondern weil der Wunsch zu schreiben tief genug ist, um Wege zu finden. Das ist vielleicht keine romantische Vorstellung, aber eine sehr echte.

 

5. Was ich aus dem Buch mitgenommen habe – und warum es mir wichtig ist

Während ich Schreibtisch mit Aussicht gelesen habe, ist mir immer wieder eine Frage im Kopf geblieben: Wie viel meines Schreibens fällt eigentlich nicht dem Zeitmangel, sondern einem Mangel an Selbstverständlichkeit zum Opfer?
Wie oft erkläre ich mich selbst zur Nebensache, bevor es überhaupt jemand von mir verlangt?

Ilka Piepgras hält einem dabei nicht den moralischen Zeigefinger hin – sie zeigt einfach, was ist. Und gerade das wirkt. Es macht sichtbar, was oft überlagert ist von Alltag, Pflichten und Erwartungen.

Ich habe mich in vielen Zeilen wiedergefunden – im Zweifel, ob meine Geschichten „wichtig genug“ sind. In der Schwierigkeit, mich vom Haushalt zu lösen, wenn ein Schreibimpuls kommt. In der inneren Stimme, die sagt: „Mach erst alles andere fertig, dann darfst du schreiben.“
Dieses dann aber kommt nie, wenn man es nicht aktiv einfordert.

Was mir das Buch gegeben hat, ist kein konkreter Plan, sondern eine Erlaubnis. Die Erlaubnis, mich selbst ernst zu nehmen. Mein Schreiben nicht als Luxus zu betrachten, sondern als Teil meines Lebens, der nicht verhandelbar ist. Nicht nach Feierabend, nicht wenn alle satt sind, nicht wenn es perfekt passt – sondern mittendrin.

Und auch: Ich bin nicht allein. Diese Erfahrung, sich Raum zu nehmen und trotzdem ständig an sich zu zweifeln, teilen viele Frauen. Es ist tröstlich, das so klar benannt zu bekommen – nicht als Schwäche, sondern als strukturelle Realität.

Für mich war „Schreibtisch mit Aussicht“ ein leises, aber nachhaltiges Aufräumen. Mit Selbstbildern. Mit Schuldgefühlen. Und mit der Vorstellung, man müsse sich das Schreiben erst verdienen.

6. Ein Aufruf an alle schreibenden Frauen

Wenn es etwas gibt, das nach der Lektüre von Schreibtisch mit Aussicht bleibt, dann ist es dieses Gefühl: Wir müssen aufhören, auf Erlaubnis zu warten.
Zu viele Frauen schreiben heimlich, leise, nebenbei. Oder sie hören auf, bevor sie überhaupt angefangen haben – weil das Leben ihnen keinen Raum lässt oder weil sie glauben, ihn sich nicht nehmen zu dürfen.

Dabei ist Schreiben kein Ego-Trip. Es ist kein Luxus. Es ist auch kein „Hobby, wenn noch Zeit bleibt“.
Schreiben ist eine Form von geistiger Selbstbehauptung. Es ist das Recht, Gedanken zu formulieren, Sätze in die Welt zu setzen, Geschichten zu erzählen, die sonst niemand schreibt. Und das ist wertvoll – gerade dann, wenn es niemand auf dem Silbertablett serviert.

Deshalb: Wenn du schreibst, schreib. Nicht perfekt. Nicht auf Abruf. Sondern dann, wenn du kannst. Und wenn du es nicht kannst, frag dich nicht, ob du faul oder undiszipliniert bist – sondern ob dir der Raum fehlt. Und wie du ihn dir schaffen kannst.

Vielleicht nur zehn Minuten am Tag. Vielleicht nur ein halber Satz, bevor der Alltag dich wieder einholt. Aber jeder dieser Sätze zählt. Nicht nur als Text. Sondern als Zeichen: Ich nehme mich ernst.

Und wir sollten das nicht allein tun. Wir brauchen Orte, an denen wir uns gegenseitig darin bestärken, zu schreiben. Ohne Bewertung. Ohne Rechtfertigung. Ohne das Gefühl, uns beweisen zu müssen.

Denn was wir schreiben, ist wichtig. Aber dass wir schreiben, ist der eigentliche Akt der Selbstbehauptung.

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